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              | Date: 2000-04-28 
 
 UK: Die IRA und der Ueberwachungsstaat-.-. --.- -.-. --.- -.-. --.- -.-. --.- -.-. --.- -.-. --.-
 
 Tony Geraghty, der seit Jahrzehnten über Themen der Verteidigung
 und des Terrorismusschreibt über Big Brother im UK. Im März 2000
 wurde ihm während einer Feierstunde im Londoner Bankenviertel der
 Press Freedom Award des Freedom Forum of America für seine
 Weigerung verliehen, die Zensurversuche der britischen Regierung
 hinzunehmen.
 
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 ....
 Der Einsatz britischer Fallschirmjäger am 30. Januar 1972, dem so
 genannten "Blutigen Sonntag", führte zu einem Massaker an
 vierzehn Demonstranten. Diese hatten lediglich unter dem Verdacht
 gestanden, bewaffneten IRA-Leuten Deckung gegeben zu haben. Der
 "Blutige Sonntag" wurde zum PR-Desaster und zwang die Armee,
 eine neue Strategie zu suchen. Mit der Zeit entwickelte sie die
 Strategie des unsichtbar geschützten Dorfes: Ein elektronischer
 Käfig, durch den viele Menschen ihre Privatsphäre verloren, sorgte
 dafür, dass tödliche Gewalt nur die "richtigen" Leute traf - und mit
 kurzen Kontakten zum "clean kill", der sauberen Tötung, führte. Die
 ungeschriebenen Regeln setzten voraus, dass der Terrorist auf
 frischer Tat ertappt werden musste. Erschossen mit der Waffe in der
 Hand, sollte er keine Gelegenheit mehr haben zu erkennen, dass an
 Stelle des von ihm anvisierten Opfers er selbst das Ziel war.
 
 Diese Strategie des "clean kill" hatte 1978 einen schlechten Start.
 Ein sechzehnjähriger Bauernsohn, der auf einem nicht mehr
 genutzten Friedhof herumstöberte, entdeckte ein Armalite-Gewehr
 und andere IRA-Bestände. Sein Vater alarmierte daraufhin die
 Polizei, die wiederum den Special Air Service (SAS) herbeirief. Zwei
 SAS-Soldaten legten sich daraufhin auf die Lauer und warteten, bis
 jemand die Waffen abholen würde. Als jemand kam, erschossen sie
 ihn. Wie sich herausstellte, war der Erschossene der Sohn des
 Bauern. Er war aus jugendlicher Neugier zurückgekommen, um noch
 einmal einen Blick auf das Depot zu werfen.
 
 Um solche Fehler zu vermeiden, wurde in den folgenden Jahren ein
 ausgefeilter Apparat aufgebaut, der Überwachungsmassnahmen mit
 der Analyse von Aufklärungsdaten kombinierte. Die Armee stellte
 eine Reihe geheimer Abteilungen zusammen: mobile
 Aufklärungsstreitkräfte (Mobile Reconnaissance Force - MRF), sowie
 die 14. Aufklärungskompanie (14 Intelligence Company) und ihre
 Sonderkommandos. Ausgebildet von der SAS hatten sie nichts
 anderes zu tun, als Tag und Nacht IRA-Verdächtige zu überwachen.
 Aus dem Aufklärungskorps wurde ein weiteres Team geschaffen: die
 FRU (Field oder Force Reconnaissance Unit bzw.
 Feldaufklärungseinheit). Ihre Aufgabe besteht darin, Informanten
 innerhalb der IRA sowie protestantischer Terrorgruppen zu
 kontrollieren.
 
 Eine Aufklärungs- und Sicherheitsgruppe, ebenfalls unter der Leitung
 von SAS-Offizieren, versuchte diese zunehmend autonom agierenden
 Spezialeinheiten zu koordinieren, die - geheim und außerhalb der
 üblichen Regeln - Teil eines schnell wachsenden Imperiums
 unkonventioneller Kriegsführung wurden.
 ....
 Dieser Krieg revolutionierte auch die Überwachungstechniken, die
 schließlich gegen eine größere, eine zivile Öffentlichkeit in
 Grossbritannien und Irland eingesetzt wurde - mit gefährlicher,
 politischer Wirkung, falls der irische Konflikt jemals gelöst werden
 sollte.
 
 Einige dieser Techniken sind so alt wie der Krieg selbst - obgleich
 etwa der Einsatz von Spezialagenten auf geheimen
 Beobachtungsposten eine neue Variante in Gestalt eines SAS-
 Soldaten erhielt, der sich geschützt mit einem Taucheranzug über
 mehrere Tage hinweg unter einem Misthaufen verbarg. Der Nutzen
 von optischem Gerät konnte erheblich erweitert werden, als die
 Mikroschaltkreise auf die Größe eines Stecknadelkopfes
 schrumpften. So wurden flexible Glasfaseroptiken, die für
 Endoskopie entwickelt worden waren, etwa in zwei Fällen in London
 von den Spezialeinheiten benutzt, als Terroristen Gebäude in London
 besetzt hatten: So 1975 in der Balcombe Street und fünf Jahre
 später vor der Iranischen Botschaft. Die so gewonnenen Bilder
 wurden schon bald per Mikrowelle aus dem Zielgebiet an
 Relaystationen gesendet, die wiederum in kleinen
 Transportfahrzeugen versteckt waren. Von hier aus wurden die
 Informationen dann weiter verschickt.
 
 Während des Kalten Krieges entwickelten die Briten ihr System
 sowohl in Irland als auch in Deutschland weiter. In der DDR sandte
 etwa ein als diplomatische Mission getarntes Spionageteam Agenten
 aufs Land, um dort die Bewegungen von Panzern und Flugzeugen
 des Warschauer Pakts zu dokumentieren. Dieses Team, bekannt
 unter dem Namen "BRIXMIS", war vermutlich das erste, das
 Videokameras für die militärische Spionage nutzte. 1994 war die
 Videokamera so klein geworden, dass sie in einen Lichtschalter in
 der Wohnung eines Mannes passte, der im Verdacht stand, einen
 Mord aus rassistischen Motiven verübt zu haben.
 .....
 
 Zu dieser Zeit hatte die britische Polizei bereits seit 27 Jahren mehr
 als 1.300 Bombenanschläge untersucht. Langsam gerieten die
 Hauptstadt und ihre Zufahrtswege unter eine kontinuierliche
 Kameraüberwachung durch automatisierte Aufnahmegeräte, die an
 Brücken und anderen günstigen Aussichtspunkten angebracht
 wurden. Als Resultat dieser Überwachungstätigkeit und einer
 obsessiven Suche nach forensischen Indizien wurde James McArdle,
 ein 29-Jähriger aus Crossmaglen, einer defacto-unabhängigen IRA-
 Republik in South Armagh, als Fahrer der Canary Wharf Bombe
 überführt.
 ...
 Schon 1974 hatte die britische Armee die ersten rechnerunterstüzten
 Hilfsmittel in Nordirland eingeführt, um das Lesen von
 Nummernschildern zu automatisieren. Dieses System namens
 VENGEFUL ermöglichte es Kontrollstellen an der irischen Grenze,
 innerhalb von dreissig Sekunden den jeweiligen Fahrzeughalter zu
 ermitteln. Bald wurde das System jedoch von Daten überschwemmt,
 sodass es sich seit 1977 auf die Autos von Verdächtigen
 konzentrierte. Dieser Prozess gewann erheblich an Dynamik, als der
 "elektronische Käfig", der das Modell des befestigten Dorfes in
 Malaya ersetzte, für die Armee zum wichtigsten Mittel wurde, um
 Zivilisten zu kontrollieren. Ein neuer Computer namens CRUCIBLE
 wurde 1987 an die 125. Aufklärungsabteilung übergeben. Der
 Journalist und Verteidigungsexperte Mark Urban stellte damals
 folgendes fest:
 
 "CRUCIBLE sammelt nicht nur Informationen über Personen und
 Vorgänge, sondern erstellt auch Bewegungsbilder von Individuen. Die
 einzelnen Daten werden von Dutzenden von Terminals in den
 Aufklärungszellen [militärischer] Einheiten rund um Ulster geliefert.
 Die Einführung des neuen Computers führte zu einigen Beschwerden
 von Aufklärungsoffizieren, die sich darüber beklagten, wieviel Zeit ihre
 Männer dafür aufwenden müssen, um die entsprechenden Daten
 einzugeben. Durch die Rechnerunterstützung können sich einzelne
 Fehler zu größeren summieren. Die Konsequenzen solcher Fehler für
 Leute, die irrtümlicherweise im Computer als mutmassliche
 Terroristen geführt werden - wie das Stoppen von Verdächtigen an
 Strassensperren oder die Durchsuchung von Wohnungen -, können
 sich auf die Sicherheitskräfte möglicherweise schädlich auswirken."
 
 Diesen Spielraum für menschliches Versagen gab es zweifellos.
 Während ich 1996 für mein Buch "The Irish War" recherchierte,
 waren die Daten von rund einer Million Personen auf den Computern
 der einen oder anderen Sicherheitsabteilung in Nordirland
 gespeichert: das sind zwei Drittel der Bevölkerung. Die meisten
 dieser Menschen hatten sich keinerlei Verbrechen schuldig gemacht,
 ausser vielleicht dem, schlecht über die Regierung zu denken. Im
 Jahr 1994 hatte die Armee nicht weniger als 37 Computerprogramme
 auf Terroristen, ihre Familien, Freunde, Nachbarn und "Komplizen"
 angesetzt.
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 Vor der Untersuchung, wie sich diese Entwicklung auf die
 Freiheitsrechte in Grossbritannien im allgemeinen auswirkte, muss
 darauf hingewiesen werden, dass diese Strategie der britischen
 Armee, von ihren Unvollkommenheiten einmal abgesehen, die bislang
 erfolgreichste, und wenn nötig tödlichste Maschinerie gegen eine
 flüchtige und disziplinierte terroristische Guerilla hervorgebracht hat.
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 Im Mai 1999 erinnerte der britische Innenminister Jack Straw eine
 Zuhörerschaft in London daran, dass inzwischen ungefähr eine
 Million Sicherheitskameras über die Bahnhöfe, Strassen und
 Einkaufszentren des Landes wachte. An einem durchschnittlichen
 Tag in London würden die meisten Menschen durch jeweils 300
 Kameras gefilmt, die wiederum an 30 unterschiedliche geschlossene
 Netze angeschlossen seien. Dieser Verlust von Privatheit war in
 Straws Augen "angemessener Preis" für die bessere Sicherheit.
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 Diese Unterdrückungskultur, in der die Agenten des Staats über den
 Gesetzen stehen, hat dazu geführt, dass die Briten zur am
 dichtesten kontrollierten und meistüberwachten Industrie-Nation der
 Erde geworden sind. Sie leben im materiellen Überfluss, völlig ohne
 jede Privatsphäre. Zu der von Jack Straw gepriesenen Million von
 Kameras an öffentlichen Plätzen sollten wir hinzufügen, dass
 inzwischen die Hälfte der arbeitenden Bevölkerung Grossbritanniens
 von verstecken Kameras am Arbeitsplatz beobachtet wird. Ein
 kritischer Kommentar, der auf der Toilette geäussert wurde, kann
 aufgenommen und für ein zukünftiges Entlassungsgespräch
 aufbewahrt werden. - Es könnte und wird vermutlich noch schlimmer
 kommen: Japan darf sich einer besonders eingreifenden Innovation
 rühmen. Ein Arbeitnehmer, der die Toilette besucht, wird nicht nur
 aufgenommen: Das Material, das er hinterlässt, wird zudem
 automatisch auf Spuren illegaler Drogen untersucht.
 
 Ausländische Besucher, die Großbritannien besuchen, sollten sich
 klarmachen, was sie erwartet. An den meisten Einreisepunkten
 warten schon militärische Aufklärungskameras auf sie. Einige davon
 könnten an die neuesten Gesichtserkennungssysteme
 angeschlossen sein. Sie ermöglichen schon jetzt den Vergleich mit
 Aufnahmen von Verdächtigen, die in einer offizellen Datenbank
 gespeichert sind. Auf diese Weise wird auch in die Rechte
 französischer Bürger eingegriffen, die durch den Kanaltunnel reisen,
 was bereits einen verärgerten Kommentar durch Le Monde
 provozierte. Daraufhin stimmte London der Vernichtung solcher
 Touristenaufnahmen nach einer dreimonatigen Frist zu, falls dies
 verlangt wird.
 
 Ungeschützt miteinander zu reden ist in Grossbritannien eine
 gefährliche Praxis. Lasergestützte Techniken zum Lauschangriff, die
 an Programme zur Stimmenidentifikation gekoppelt sind und auf ein
 Bürofenster gerichtet werden, können Gespräche aufnehmen und
 verstärken. Wenn alternativ eine Wanze an den richtigen Computer
 angeschlossen wird, kann sie aus vierzig Stimmen in einem Raum
 herausfiltern.- Das verlangt allerdings eine sorgfältige Vorbereitung:
 Ein vorher aufgenommenes Sample der Stimme der Zielperson muss
 analysiert werden, damit daraus ein "Stimmprofil" gewonnen und auf
 dem Rechner kalibriert werden kann. - Solche Technologien können
 in Großbritannien bei minderen zivilrechtlichen Vergehen eingesetzt
 werden, eine Straftat ist dafür keine Voraussetzung.
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 Man kann sich fragen, warum die Regierung des Vereinigten
 Königreichs solche Anstrengungen unternimmt. Jahrelang hat das
 satellitengestützte anglo-amerikanische Abhörsystem Echelon als
 Staubsauger für Nachrichtendienste wie den britischen GCHQ und
 die amerikanische National Security Agency fungiert. Das neue
 Gesetz wird lediglich den bestehenden Gebrauch erweitern, indem
 es lokalen Behörden die selbe gottähnliche Macht verleiht, über die
 derzeit nur die Regierungsagenten verfügen.
 ....
 
 Die Big-Brother-Moral und ihre Techniken beeinflussen die britische
 Zivilgesellschaft heute in jedem einzelnen Lebensaspekt. Der
 Mietwagen eines Firmenvertreters wird durch das gleiche
 Satellitensystem überwacht, das auch von britischen
 Nachrichtendiensten gegen den Sinn-Fein-Politiker Gerry Adams in
 einer kritischen Phase des Friedensprozesses eingesetzt wurde.
 Während Adams durch Wanzen überwacht wurde, baute GECapital,
 eines der führenden britischen Mietwagenunternehmen, das
 Trackingsystem "Fleet Command" - das eines von vielen verfügbaren
 Systemen ist - in seine Autos ein. Die Automobile Association
 bezeichnete das Verhalten von GECapital, das britische Firmen mit
 insgesamt 9.300 Wagen versorgt, daraufhin in englischem
 Understatement als "nicht erfreulich".
 
 Währenddessen bauen Arbeitgeber nicht nur stecknadelgrosse
 Kameras in ihre Büros ein, sondern überwachen auch die
 Produktivität von Schreibkräften mit einem verdeckten System
 namens Psychic Watcher. Es speichert die Anzahl der Anschläge
 zu jeder beliebigen Zeit. - Nachrichtendienste machen das noch
 besser: Sie entziffern das Getippte aus der Ferne.
 
 Die Arbeitslosen geraten inzwischen unter die Überwachung von
 Agenten, die der SAS trainiert hat, um sicher zu stellen, dass
 Sozialhilfeleistungen nicht missbraucht werden. - Missbrauch kann in
 Grossbritannien unter anderem bedeuten, dass eine unverheiratete
 Mutter mit ihrem Partner zusammenlebt. Denn Sexualpartner sind
 angehalten, sich gegenseitig finanziell zu unterstützen. Dieses
 Gesetz formuliert somit eine Charta der Bespitzelung, indem es
 Nachbarn dazu verleitet, die intimen Geheimnissen anderer
 auszuspionieren. Auf disen Vorgang wäre die Stasi stolz gewesen
 ....
 1996 wurden bereits 5.000 solcher Geheimagenten eingesetzt. Über
 die Agentin Fiona McAlpine wurde damals berichtet, sie trage eine
 Ausrüstung mit sich herum, "auf die ein James Bond stolz sein
 würde ... Während sie Verdächtige verfolgt, hält ein im Tragegurt ihrer
 Handtasche verstecktes Mikrophon die Verbindung zum
 Hauptquartier. In der Handtasche selbst verbirgt sich ein kleines
 Loch, durch das eine Videokamera lugt. Ihre männlichen Kollegen
 verstecken die Kameras dagegen in ihren Krawattennadeln."
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 Voll Text
 http://www.heise.de/tp/deutsch/special/info/6759/1.html
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 edited by Harkank
 published on: 2000-04-28
 comments to office@quintessenz.at
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